Erstellt am: 16.01.2023 16:55
Von: Pfarrerin Felicitas Renard, Backnang Waldrems


Der liebe Gott sieht alles

Gedanken zur Jahreslosung


„Der liebe Gott sieht alles“. Dieser Satz hat sich bei mir tief eingeprägt. Ich habe noch ganz genau im Ohr, wie meine frühere Bibellesekreisleiterin diese Worte immer wieder zu mir oder zu anderen Teilnehmenden sagte. Sie war eine wohlsituierte Dame aus gutem Hause. Wir gingen hauptsächlich deshalb so gerne in den Bibellesekreis, weil es dort immer Tee mit Kandiszucker und leckeres Gebäck gab. Denn unsere Leiterin war doch recht streng und noch leitete diesen Kreis mit einem gewissen furchteinflößenden Befehlston. Auch dieser Satz war eine ihrer berühmten Drohungen, sollten wir uns in einer Art und Weise „falsch“ verhalten – und da gab es einige Möglichkeiten: Beim Gebet mussten die Hände unbedingt auf Brusthöhe gefaltet werden. Sie erwartete, dass wir sämtliche Bibelstellen auswendig lernten. Und sonntags bemerkte sie im Gottesdienst sogar, wenn wir die Augen während des Gebets nicht geschlossen hatten. Vielleicht war sie auch eine Art Helferin Gottes, die eben alles sieht?


Dieses Jahr haben wir eine Jahreslosung mit einer ähnlichen Verheißung. Sie lautet: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Aber hierbei geht es keineswegs um die Kontrolle, oder um Drohungen. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“So lautet die Beschreibung einer schwangeren Frau für Gott. Sie sagt dies zu Gott, nachdem sie gedemütigt von ihrem Zuhause fliehen musste, in der Wüste einem Gottesboten begegnete und dieser ihr versprach, dass ihr Sohn einmal viele Nachkommen haben würde (nachzulesen in 1. Mose 16). Sie verstand in diesem Moment: Gott sieht ihr Elend an. Aber nicht, um sie weiter zu demütigen oder sich über ihre Situation lustig zu machen, wie sie es in ihrem Zuhause erfahren hatte. Vielmehr sieht Gott ihr Elend mit seinem liebenden Blick an. In diesem Angesehen-Werden liegt etwas unglaublich Kostbares.

Denn auf einmal fühlt sich die schwangere, geflohene Frau durch Gott angesehen und dadurch anerkannt und wertgeschätzt. Von Gott angesehen werden, ist für die Frau lebensverändernd. Wie verwandelt bricht voll neuen Mutes wieder aus ihrer Wüste auf. Die erfahrene Demütigung kann sie hinter sich lassen.

Auch für uns Menschen heute gilt wohl, dass Anerkennung anderer uns unseren Selbstwert und unsere Würde gibt. Die Jahreslosung dieses Jahr vergewissert uns: Gott richtet sein Ansehen auf die, die übersehen werden oder keine Anerkennung finden, auf die Menschen, die sich wertlos und allein fühlen. Gottes Sehen ist ein Angesehen-Werden. Er gibt jedem Menschen seinen Wert. Deshalb muss ich fast meiner Bibellesekreisleiterin zustimmen, wenn sie damals sagte: „Der liebe Gott sieht alles.“ Und zwar deshalb, weil die Menschen ihm wichtig sind.

Gott sorgt sich um jede und jeden Menschen, denn Gott ist ein Gott, der mich sieht.

Pfarrerin Felicitas Renard, Backnang Waldrems